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GästeDialog #2

GästeDialog #2

Justitia auf der Hebebühne – ein Besuch bei „Kein Kläger“ auf dem Rodeofestival kurz vor dem November-Shutdown

Kunst und Kultur sind immer etwas Persönliches – entweder, es spricht einen an, oder eben nicht. Frau M. gibt zunächst einmal jeder Form von künstlerischer Darbietung eine Chance; schließlich trügt der erste Eindruck bekanntermaßen oft. Nicht zuletzt hat Frau M. selbst im Laufe ihrer Biografie stetigen Wandel, Neuanfänge, innovative Gedanken und Experimentierphasen erfahren: 1957 geboren erlebte sie den Wirtschaftsaufschwung ebenso mit wie die Krisen, Umbrüche und Veränderungen der 70er Jahre. Bis heute hat sich Frau M. einen wichtigen Teil ihrer Kindheit bewahrt: eine große Neugier und Offenheit – und zudem einen ausgeprägten Beobachtungssinn. Diese Charaktereigenschaften haben sicherlich auch ihren Teil dazu beigetragen, dass Frau M. sich am Abend des 30.10.2020 auf eine sehr besondere Reise durch den Münchner Stadtraum eingelassen hat, ohne zu ahnen, wie nachhaltig dieses Erlebnis sein würde.

Die Teilnehmer*innen der angekündigten Live-Performance trafen sich um 18.00 Uhr am Olympia-Einkaufszentrum, von wo aus sie zum Parkdeck auf der Nordseite geführt wurden. Dort tauchten plötzlich neue Personen auf, die im Wechsel zu erzählen begannen – von einem Attentat. Von dem Anschlag, der in eben jenem Einkaufszentrum vor vier Jahren verübt wurde, auf dessen Parkdeck die Gruppe sich gerade befand. Die Performance der ganz in Weiß gekleideten Schauspieler hatte etwas Futuristisches, erinnert sich Frau M. Da war ein blinkendes Gerät, mit dem die Darsteller und Darstellerinnen suggerierten, in die Köpfe der Menschen hineinsehen zu können. Mobile Scheinwerfer erzeugten eine zusätzlich beeindruckende Bühnenatmosphäre.

Auf den trotz seiner nur zehnminütigen Dauer sehr ausdrucksstarken Auftakt folgte eine dreistündige Erlebnistour – zunächst mit der U-Bahn, dann zu Fuß. Vom Stiglmaierplatz aus wurde man vorbei am Justizpalast, durch den Alten Botanischen Garten und über den Königsplatz bis hin zum NS-Dokumentationszentrum geführt. An jedem Schauplatz wurden die Teilnehmer*innen in ein weiteres Live-Event involviert, von Vorträgen über Videos auf dem iPad bis hin zum dramatischen finalen Aufritt von Justitia in einem überlangen Gewand, die auf einer Hebebühne gen Himmel schwebte. Die symbolträchtige Darstellung am Ende des Rundgangs war der buchstäbliche Höhepunkt des Themenkomplexes, der alle besuchten Orte und Formate an diesem Abend geprägt hatte: Gedanken über Anfang und Ende von Recht und Gerechtigkeit, Verbrechen, allzu nachsichtig erscheinendes Strafmaß und Widersprüchlichkeiten sowie Kritik an unzureichender Berichterstattung. Von der NS-Zeit über die Nachkriegsjustiz bis hin zum Attentat im OEZ 2016 und den jüngsten NSU-Prozessen wurde ein Bogen basierend auf intensiver Recherche mittels Originalquellen gespannt, der zum Nachdenken und Nachfühlen anregte.

Neben der höchst aktuellen Thematik an sich haben die Kombination aus natürlicher Kulisse, professionellen Schauspielern und einer erstaunlichen und reibungslosen Logistik im Hintergrund den Abend für Frau M. zu einem einmaligen Ereignis gemacht. Nach Ende des letzten Auftritts hatte sie sogar noch Gelegenheit, mit Christiane Mudra, der Autorin des Stücks, zu sprechen. Frau M. beschreibt das Erlebte alles in allem als ein fantasievolles und tiefgründiges Kunstwerk – sie habe sich geehrt gefühlt, daran teilzunehmen.

Nähere Informationen zu „Kein Kläger“ und der Initiative „Investigative Theater“ sind abrufbar unter https://investigativetheater.com.

Text: Antonia Schwingen

Antonia Schwingen, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei KulturRaum München, unterhält sich regelmäßig mit unseren KulturGästen und berichtet im „GästeDialog“ über deren Kultur-Erlebnisse.

Antonia ist selber sehr kulturinteressiert und freut sich über persönliche und ehrliche Statements unserer KulturGäste. Sowohl, um andere Menschen in Bezug auf Kunst- und Kulturabenteuer zu inspirieren, als auch, damit Initiativen wie der KulturRaum München sich kontinuierlich positiv weiterentwickeln können.

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